Islamist aus Mönchengladbach Gefährlich, bewaffnet - und frei Raschid K. ist eingestuft als islamistischer Gefährder der höchsten Risikoklasse. Obwohl Ermittler eine Waffe bei ihm fanden und er immer wieder kriminell wird, ist er frei. Sein Fall erinnert an den Umgang mit Anis Amri.

Von Roman Lehberger

11.06.2019, 12:33 Uhr

Dieser Artikel beginnt mit einem Gedankenspiel: Stellen Sie sich vor, Sie sind Kriminalbeamter und ermitteln in der Islamistenszene. Sie stoßen auf ein Foto eines als hochgefährlich geltenden Extremisten, das diesen Mann mit einer Kalaschnikow zeigt. Sie sind besorgt, denn der Mann hat nicht nur radikalste Ansichten, sondern ist erwiesenermaßen auch gewalttätig und kriminell - schwere Körperverletzung, gefährliche Körperverletzung, Drogen, Diebstahl, Gefängnisstrafen.

Rashid K.: Verwurzelt in der salafistischen Szene und gleichzeitig offenbar verstrickt in die organisierte Kriminalität.
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Außerdem ist der Mann ein abgelehnter Asylbewerber, der inzwischen unangemeldet in einer konspirativen Wohnung lebt. Viel zu verlieren hat er nicht. Sie überwachen, observieren. Sie durchsuchen seine Wohnung und finden eine halbautomatische Waffe, durchgeladen, in einem Regal. Daneben eine Schachtel Munition und einen Schalldämpfer. Sie nehmen den Gefährder fest und denken: Glück gehabt. Ein Haftbefehl? Reine Formsache, auf die Straße lässt den doch so schnell niemand mehr.

Falsch gedacht.

Man kann nicht genau sagen, ob der Mann aus Mönchengladbach, der in behördlichen Systemen als Raschid K. registriert ist, tatsächlich so heißt. Oder Islam H., wie er sich einmal in Brandenburg nannte, oder ganz anders. Sicher ist, dass der bullige Islamist, heute nach eigenen Angaben 31 Jahre alt, im Jahr 2004 aus Tschetschenien nach Deutschland kam. Sicher ist auch, dass sein Asylantrag bereits ein Jahr später abgelehnt wurde, er sich trotzdem in Nordrhein-Westfalen niederließ und seit vielen Jahren sämtliche Sicherheitsbehörden auf Trab hält.

Kriminell und extremistisch

Denn Raschid K. ist beides: tief verwurzelt in der salafistischen Szene und gleichzeitig offenbar verstrickt in die organisierte Kriminalität. Ein Phänomen, das in besonderem Maße bei tschetschenischen Straftätern zu beobachten ist, wie das Bundeskriminalamt (BKA) jüngst in einer vertraulichen Analyse warnte.

Eine Abschiebung von Raschid K. ist nicht möglich, denn sein Heimatstaat Russland gibt an, einen Mann mit seinen Personalien nicht zu kennen. Keine Passersatzpapiere, keine Abschiebung. Und so wird die Duldung von Raschid K. seit nunmehr 14 Jahren immer wieder verlängert.

"Es stellt sich die Frage, ob die Einnahmen aus seinen Straftaten möglicherweise gezielt in die Salafistenszene fließen. Aber nicht nur mögliche Finanzströme machen uns bei ihm Sorgen", sagt ein Staatsschützer. Füttert man Radar-Ite, das polizeiliche Analysesystem für Gefährder, mit den Daten von Raschid K., spuckt das Programm ein eindeutiges Ergebnis aus: hohes Risiko, das ist die höchste Stufe. Gemeint ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Betreffende einen terroristischen Anschlag verüben könnte.

Alarmiert waren Beamte des Mönchengladbacher Staatsschutzes daher, als sie im März 2018 auf Fotos aufmerksam wurden, die Raschid K. mit einem Sturmgewehr zeigten. Die Generalstaatsanwaltschaft Düsseldorf leitete ein verdecktes Verfahren gegen K. ein wegen eines möglichen Verstoßes gegen das Kriegswaffenkontrollgesetz. Dass der Tschetschene in einem Milieu verkehrt, in dem Schusswaffen verbreitet sind, wurde den Beamten spätestens im September klar: Bei einer Auseinandersetzung in einer Kölner Kneipe traf Raschid K. eine Kugel ins Bein.

Ob der abgelehnte Asylbewerber tatsächlich irgendwo ein Waffenlager hat, konnten die Fahnder trotz aufwendiger Überwachungsmaßnahmen nicht sicher sagen. Ende April entschloss man sich daher zum Zugriff - und wurde fündig: Der Gefährder bunkerte in einer Düsseldorfer Wohnung, in der er lebte, eine durchgeladene Pistole des Modells Astra 3000. Außerdem eine Packung Munition und einen Schalldämpfer. In seiner Vernehmung rechtfertigte sich Raschid K., die Waffe nur zum eigenen Schutz auf dem Schwarzmarkt erworben zu haben. Der Schalldämpfer sei halt so dabei gewesen.

Endlich hatten die Fahnder etwas gegen den Tschetschenen in der Hand: eine scharfe Pistole samt Profizubehör in der Wohnung eines Gefährders. Dazu ein krimineller Hintergrund und beste Kontakte in die Islamistenszene. Der zuständige Ermittlungsrichter des Amtsgerichts Düsseldorf erließ Haftbefehl - und setzte diesen im selben Augenblick wieder außer Vollzug. Gefährder K. müsse nicht in Untersuchungshaft, solange er bis zum Abschluss des Verfahrens straffrei bleibe, entschied der Richter. Gegen Auflagen spazierte Raschid K. zum Entsetzen der Beamten wieder in die Freiheit.

Das Prinzip "Al-Capone"

Nach dem Versagen der deutschen Sicherheitsarchitektur im Fall Anis Amri und dem Anschlag auf den Berliner Breitscheidplatz 2016 gelobten die Behörden Besserung. Auch Amri war Islamist und Krimineller. Hätte man seine zahlreichen Vergehen im Bereich der Allgemeinkriminalität mehr Beachtung geschenkt, wäre er womöglich im Gefängnis gelandet und ein Terroranschlag somit verhindert worden. Die Lehren: Strafverfahren gegen Islamisten sollten gebündelt, die Zusammenarbeit zwischen den Behörden verbessert und alle Möglichkeiten zur Strafverfolgung ausgeschöpft werden.

Ein Vertreter der Bundesanwaltschaft sprach in diesem Zusammenhang vom "Al-Capone-Prinzip", das man besonders bei Gefährdern verstärkt anwenden wolle, die man lieber in Haft sähe. Soll heißen: Wie bei der Gangster-Legende aus Chicago, der man ihre größten Verbrechen nicht nachweisen konnte, sollten auch kleinere Delikte konsequent verfolgt werden und so zum Ermittlungserfolg führen. Eine zuständige Staatsanwaltschaft bearbeitet bestenfalls alle Verfahren gegen einen Gefährder, so die Theorie. In der Praxis kann das tatsächlich ein wirksames Mittel sein - wenn nicht ein Gericht, wie im Falle Raschid K., doch lieber Milde walten lässt.

Für manche nicht völlig überraschend legte Gefährder K. die strenge Ermahnung des Richters, bitte strafffrei zu bleiben, eher großzügig aus.

Seltsame Geräusche an der Tür

Keine zwei Wochen nach dem Waffenfund in Düsseldorf bekam ein Mieter in einem Mehrfamilienhaus in Neuss den Schreck seines Lebens. Es war gegen 0.30 Uhr in der Früh, als der Mann seltsame Geräusche an der Eingangstür des Wohnhauses vernahm. Zwei Personen versuchten offensichtlich einzubrechen. Der mutige Mieter verscheuchte die Männer, verfolgte den Fluchtwagen und alarmierte die Polizei. In einer filmreifen Aktion stellte die Polizei den Wagen kurz darauf in der Neusser Innenstadt. Die Insassen: Gefährder Raschid K. und ein tschetschenischer Komplize mit einschlägiger Vergangenheit.

Hoffnungsvoll wandten sich die Staatsschutzfahnder in Sachen K. daraufhin wieder an das Düsseldorfer Amtsgericht. Man möge den Haftbefehl gegen K. jetzt endlich in Kraft treten lassen. Doch erneut wurden sie enttäuscht. Einen eindeutigen Einbruchsversuch konnte das Amtsgericht Düsseldorf nicht erkennen und wertete die Manipulationen an der Haustür als einfache Sachbeschädigung.

Eine Sachbeschädigung reicht nicht

Die Begründung des Richters: Da es sich um die Haustür eines Mehrfamilienhauses handelt, sei unklar, in welche der Wohnungen die Täter möglicherweise hätten eindringen wollen. "Eine Invollzugsetzung des Haftbefehls wurde zurückgewiesen, da die Voraussetzungen, nämlich eine gröbliche Zuwiderhandlung gegen eine Auflage des Haftverschonungsbeschlusses, nicht vorlag", teilt das Gericht auf eine SPIEGEL-Anfrage mit. Will heißen: Eine Sachbeschädigung reicht nicht für die Aktivierung des Haftbefehls.

Und so bleibt Gefährder K. trotz seiner erwiesenen Schwäche für Schusswaffen und seiner alarmierenden Gesinnung bis auf Weiteres auf freiem Fuß, eine Gerichtsverhandlung liegt in weiter Ferne. In zwei Wochen steht erneut die Verlängerung seiner Duldung an. Es wird seine Einunddreißigste werden.


Quelle: spiegel.de vom 11.06.2019